Kapitän Corvus und das Sternfrucht-Geheimnis
Ein Pirat sucht nachhaltige Nahrung, findet Weisheit.
Der nagende Hunger

Die Mittagssonne brannte erbarmungslos auf das Deck der 'Salzigen Löffel', doch ihre Wärme spendete keinen Trost. Kapitän Corvus, gewöhnlich ein Mann des schallenden Lachens und kräftigen Appetits, starrte in ein Fass, das einst mit Pökelfleisch und Schiffszwieback überquoll, nun aber gespenstisch leer war. Sein prächtiger roter Bart hing schlaff herab und spiegelte die Verzweiflung wider, die in die ausgemergelten Gesichter seiner Mannschaft gegraben war. „Drei Tage, Jungs, drei Tage ohne eine richtige Mahlzeit!“ murmelte der Erste Maat Finn, seine Stimme rau vor Hunger. Der Ozean, einst ihre grenzenlose Speisekammer, hatte wochenlang nichts als leere Netze und eine unheimliche Stille geboten. Plündern war nutzlos geworden; jede Insel, die sie überfielen, war so karg wie ihre eigenen Laderäume. Corvus wusste, dass die Verantwortung eines Kapitäns über den Schatz hinausging; sie umfasste die Versorgung seiner Mannschaft. Eine nagende Sorge, weitaus schlimmer als jeder Hunger, setzte sich tief in seinem Magen fest.
Die Legende der Sternfrucht-Insel

Tief in seiner Kajüte, inmitten staubiger Rollen und vergessener Karten, stieß Corvus auf ein verblasstes, brüchiges Pergament. Es war eine Karte, anders als alles, was er je gesehen hatte, die eine Insel darstellte, gehüllt in ein schwaches, goldenes Leuchten, beschriftet mit 'Sternfrucht-Insel'. Gerüchte aus seiner Jugend, Geschichten von einer Insel, wo Nahrung auf magische Weise wuchs, hallten in seinem Kopf wider. Aber die Karte trug auch eine kryptische Inschrift: 'Überfluss verdient, nicht genommen.' Das widersprach jedem Pirateninstinkt. Finn, der über seine Schulter spähte, spottete: „Verdient? Wir sind Piraten, Käpt'n! Wir nehmen!“ Corvus verspürte jedoch einen seltsamen Sog. Die traditionellen Wege hatten sie im Stich gelassen. Vielleicht gab es eine andere Art von Schatz zu finden, eine, die kein Plündern beinhaltete. Er dachte über das moralische Dilemma nach: Könnte ein Pirat, ein Nehmer von Beruf, ein Geber werden? Der Hunger war groß, aber eine tiefere Neugier regte sich nun in ihm. „Setzt Kurs auf die Sternfrucht-Insel“, befahl er, seine Stimme von einer ungewohnten Entschlossenheit erfüllt, „aber bereitet euch auf eine andere Art der Landung vor.“
Eine Ernte der Zusammenarbeit

Die Sternfrucht-Insel war ganz anders als die geplünderten Ruinen, die Corvus kannte. Sie war ein üppiges Paradies, gefüllt mit exotischen Pflanzen, die leuchtende, sternförmige Früchte trugen. Die Luft summte von sanfter Aktivität. Die Inselbewohner, ohne Angst, begrüßten sie mit ruhiger Würde. Doch unter der Oberfläche standen sie vor einer Krise: Eine mysteriöse Krankheit bedrohte ihre kostbare Sternfrucht, ein wichtiges Bestäuber-Tier war verschwunden, und ihre alten Bewässerungskanäle waren verstopft. Corvus, der die wahre Natur ihres Überflusses erkannte – sorgfältige Kultivierung, keine Magie –, spürte eine Veränderung. „Wir kennen uns ein bisschen mit verhedderten Seilen und dem Freimachen von Passagen aus“, erklärte er. Zu Finns Erstaunen schloss sich die Mannschaft den Inselbewohnern an und nutzte ihre Kraft und ihren Einfallsreichtum, um die Kanäle zu reinigen und Unterstände für die verbleibenden Bestäuber zu bauen. Corvus, der normalerweise Befehle bellte, half nun sanft bei der Pflege der kranken Pflanzen und lernte über ihr empfindliches Ökosystem. Sie arbeiteten unermüdlich, nicht für Beute, sondern für eine gemeinsame Zukunft. Die Inselbewohner, die ihren aufrichtigen Einsatz sahen, teilten altes Wissen über die Bedürfnisse der Sternfrucht.
Die Samen des Wandels

Da die Bewässerung frei floss und die Krankheit eingedämmt war, blühte die Sternfrucht-Insel wieder auf. Die dankbaren Inselbewohner veranstalteten ein prächtiges Fest. Die Tische ächzten unter dem Gewicht leuchtender Sternfrüchte, süß duftender Knollen und frisch gefangenem Fisch. Corvus, frisch rasiert und lächelnd, saß unter ihnen, teilte Geschichten und Lachen. Er beobachtete seine Mannschaft, einst mürrisch und hungrig, jetzt lachend und zufrieden, ihre Bäuche voll. Das war besser als jedes gestohlene Gold. Eine Erkenntnis dämmerte ihm: Wahrer Reichtum war nicht das, was man nahm, sondern das, was man pflegte und teilte. Als es Zeit war zu gehen, überreichte der Häuptling der Insel Corvus nicht Gold, sondern einen Beutel mit Sternfruchtsamen und ein abgenutztes Buch über nachhaltige Landwirtschaft. „Möge eure Reise reichlich sein, Kapitän“, sagte der Häuptling. Corvus kehrte zur 'Salzigen Löffel' zurück, ein veränderter Mann. Sein Schiff, einst ein Gefäß der Plünderung, sollte nun eines des Anbaus sein. Kapitän Corvus, der Pirat, war zu Kapitän Corvus, dem Hüter guter Nahrung, geworden, der die Meere nicht mehr befährt, um zu nehmen, sondern um zu lehren und zu helfen, eine bessere Welt zu kultivieren, eine Sternfrucht nach der anderen.